Erstbegehung in den Dolomiten (Teil 2)
Die Tour ist fertig, ein ganzes Jahr schon fertig!
„Ode an die Freude“, ja genau Ludwig van Beethovens 9. Sinfonie,
die Europahymne! Wer denkt schon daran, dass man über ein Schlachtfeld klettert.
Der Einstieg, ein liebliches waagerechtes Plateau, Blumen und Gräser direkt am Wandfuß – eine Stellung der italienischen Alpini aus dem 1. Weltkrieg. Ganz weit oben, einen langen Klettertag entfernt, auf dem Gipfel hatten sich deutsche Gebirgsjäger und österreichische Kaiserjäger verschanzt. Kaum vorstellbar, aber die Tour führt genau durch die Front!
Ode an die Freude, die Europahymne! Europa ist die Antwort auf dieses Blutvergießen.
Auch an der Tofana, diesem atemberaubend schönen Kletterberg, starben tausende meist ganz junger Menschen für den Nationalismus. Wer an Europa zweifelt, sollte Soldatenfriedhöfe besuchen. In den Dolomiten gibt es sie an jeder Ecke!
Wenn man entlang dieser irrwitzigen Front des 1. Weltkriegs klettert und auch nur einen Rest an Herz und Hirn hat, freut man sich darüber, dass wir unser Europa haben und summt vielleicht beim Abstieg ganz leise Beethovens `Ode an die Freude´.
Im Alpinen prüfe ich jeden Griff, immer. Hier geht es nicht. Der Griff muss einfach halten.
Ich setzte die Bohrmaschine an. Knack. Im hohen Bogen fliege ich aus der überhängenden Wand.
Aber alles von vorne.
Nach dem langen Winter hat das Warten ein Ende. Jens und ich haben endlich wieder unseren Berg.
Nach einem Biwak sind wir inzwischen hoch in der Wand. Die überhängende gelbe Verschneidung schüchtert mich ganz schön ein. An diesem Ort wird mir die ganze zarte Verletzlichkeit des Lebens klar. Ich bin so winzig, so bedeutungslos, ein nichts. Der Berg ist groß und wird es noch in tausend Jahren sein.
Wer mit dem Begriff Demut nichts anzufangen weiß, bitteschön, hier oben gibt es ein kostenloses Intensivseminar!
Während ich am Standplatz Jens nachsichere, gehen mir Gedanken von Jean-Paul Sartre durch den Kopf. Sartre hat das Dilemma des modernen Menschen erkannt und beschrieben: „Ich bin dazu verdammt, frei zu sein.“
Der Mensch muss sein Leben selbst und in voller Eigenverantwortung meistern, ja er muss sich täglich neu „erfinden“.
Ja. Ja, genau so ist es. Freiwillig hängen wir in dieser Wand. Wenn ich mich auch nicht neu erfinde an diesem Berg, verwirkliche ich mich hier und das immer wieder neu.
„Meinst du da kommen wir hoch?“ fragt Jens.
Was soll ich jetzt antworten? Ich habe die Hosen voll. Und da muss ich rauf. Kein Mensch ist vor mir dort gewesen. Kein Sicherungshaken weist mir als rettende Insel den Weg.
Ich schaue Jens ins Gesicht.
„Klar kommen wir da hoch.“
Jens antwortet nichts, er hat mich wohl durchschaut.
Wortlos hänge ich das Material an meinen Gurt. Was für ein Gewicht, damit kann doch kein Schwein klettern.
Ich klettere los und mit mir der innere Schweinehund.
Eigentlich geht es ganz gut. Ich bohre ab und zu einen Sicherungshaken, und weiter geht es. Die überhängende Verschneidung kommt immer näher, immer drückender.
Die Zweifel und die Angst werden stärker.
Da, ein schmales Band zieht horizontal nach links. Vielleicht kann ich dieses kompakte Stück Fels links umklettern. Ich quere 20 Meter waagerecht. Unter mir bricht der Fels überhängend ins Nichts. Es ist schauerlich. Zu allem Überfluss wird das Gestein jetzt total brüchig. Ich muss aufpassen, dass ich nicht mit einer Steinlawine aus der Wand gespült werde.
Irgendwie rette ich mich auf einen Absatz hinüber und baue einen Standplatz.
Ich lasse Jens nachkommen. Zügig klettert er nach. Dann kommt der Bereich, in dem sich der Fels aufgelöst hat. Totaler Bruch! Plötzlich ist Schluss. Es geht nicht mehr.
„Wenn ich weiter klettere, werde ich sterben“, sagt Jens. Ich fühle den Ernst der Lage und fühle, dass wir auf dem Holzweg sind. Ich motiviere Jens vorsichtig zurück zu klettern bis zum letzten Bohrhaken. Dort macht er Stand und sichert mich zurück. Jens will nicht mehr. Er ist ganz ruhig, kein Drama oder dergleichen.
Die emotionalen Akkus sind einfach leer. Ich akzeptiere das. Ich frage ihn, ob er mich noch einmal sichern kann. Ich möchte versuchen die Verschneidung zu klettern. Wenigstens sehen, ob es möglich ist. Jens stimmt zu. Also klettern wir zusammen noch einmal 50, 60 Meter hinauf. Nicht leicht, aber es geht. Inzwischen habe ich einen stark überhängenden Riss erreicht. Direkt über mir hängt ein großer Felsblock, wie durch Zauberhand von einem kleinen Steinchen gehalten. Hier ist auch für mich Schluss. Ich bin Bergsteiger, kein Selbstmörder!
Es ist Schluss. Und doch nicht Schluss.
Der Verstand sagt nein, das Herz sagt ja.
Ich versuche mich vorsichtig an dem Block vorbei zu arbeiten, bohre einen letzten Haken, seile mich ab. Ich habe mir ein Hintertürchen offengelassen. Wenn es mir noch einmal vergönnt sein sollte, an diesen einsamen Punkt Erde zurück zu kehren, könnte ich an diesem Haken Stand machen, mich und den Kletterpartner befestigen, Seile einziehen, mit dem Hammer diesen kleinen Stein zertrümmern, der den großen Block hält und diesen in den Abgrund befördern. Damit wäre der Weg frei.
Wortlos seilen wir durch die Dunkelheit ab. Erst nach Mitternacht erreichen wir ziemlich erschöpft den Wandfuß. Die Stimmung ist gedrückt. Es gibt nichts zu bereden.
Der Erfolg schmeckt süß. Die Niederlage bitter. Wir haben so viel Zeit, Energie und Mühe, vor allem aber Begeisterung investiert und jetzt?
Kurz nach der deutschen Grenze halten wir an einer Raststätte um etwas zu Essen; Tankstellenfraß. Wir kommen aus Italien, dem Land mit der edlen feinen Küche. Aber die Enttäuschung war zu groß noch einmal mit Freude und Gelassenheit Dolce Vita zu genießen. Es war keine Abreise, es war eine Flucht.
„Vielleicht komme ich noch mal mit. Ich brauche Zeit“, sagt Jens. Ich bin unendlich erleichtert. Während der Rückfahrt überlegte ich bereits, wer wohl mit in diese große Wand kommen würde, wenn Jens nicht mehr dabei ist. So etwas hat einen fahlen Beigeschmack. Es fühlt sich ein bisschen an wie Verrat, auch wenn es keiner ist.
Ich freue mich sehr mit Jens noch einmal in unsere Tour einzusteigen. Das fühlt sich besser an. Wir haben die ganzen Erlebnisse geteilt, das Schöne, wie das Schwere. Ich bin vorgestiegen, habe gebohrt, den Weg gesucht. Jens ist hinterher geklettert. Hat das ganze Material geschleppt – Edelstahlhaken, Wasser usw. Teilweise 20 kg im Rucksack und ist damit geklettert. Es war meine Idee, meine Tour, meine Linie. Aber die andere Hälfte gehört ihm.
So fühlt es sich besser an.
Der Wecker klingelt. Es ist kalt. Und fängt an zu dämmern. Ein letztes Mal sind wir zusammen an der Tofana.
Alles an einem Tag. Alles auf eine Karte.
Das Wetter ist bewölkt, es ist kalt. Wir haben das ganz bewusst so ausgewählt. Die Tofana Wand ist eine Südwand. Süd bedeutet Sonne, Hitze – auch auf 3000 Meter. Hitze bedeutet Trinken. Viel Trinken bei körperlicher Belastung. Trinken bedeutet Gewicht!
Die Devise lautet: lieber frieren als schleppen.
Acht Stunden später baumeln wir zusammen am letzten Bohrhaken. Das Problem bei der Erstbegehung solcher großen Wände ist, dass der Aufwand immer größer wird, um den Umkehrpunkt wieder zu erreichen. Dann sind die Akkus schon ziemlich leer und die zur Verfügung stehende Restzeit ist klein. Das ist ungefähr so wie nach einem Fußballspiel, wenn es dann in die Verlängerung geht. Nur mit dem Unterschied, dass beim Fußball auch der Gegner müde ist; der Berg nicht.
Ich bohre einen zweiten Haken. Dort mache ich mich fest, und dann ganz lang. Schräg rechts über mir hängt immer noch dieser Block. Ich schätze mal 250 kg mit einem kleinen Steinchen verklemmt. Dass „das Mistdingen“ da nicht rausfällt, ist physikalisch eigentlich gar nicht möglich. Ich verstehe es nicht. Ich frage mich, ob er irgendwie auf der Rückseite doch irgendwie mit dem Fels verwachsen ist.
Mit dem Hammer erreiche ich den kleinen Stein, der dieses Ungeheuer irgendwie stabilisiert. Ich zögere. Bin nicht sicher, ob der Block mich nicht doch treffen könnte. Noch einmal überprüfe ich meine Überlegungen. Ja es passt. Mein Hammer schlägt auf das kleine Steinchen.
Der Block setzt sich wie in Zeitlupe in Bewegung. Rauscht 200 Meter an der überhängenden Wand vorbei, um dann irgendwo am Felsen in hundert Teile zu zerspringen.
Der Weg ist frei!
Es folgt ein stark überhängender Riss. Ich hänge fast nur in den Armen und muss trotzdem irgendwie die Bohrmaschine hochbekommen, sie ansetzen, ein Loch bohren, einen Bohrhaken versenken. Es ist unglaublich anstrengend. Ich habe gefühlt Krämpfe im ganzen Körper. Bin total platt. Aber, ich will da jetzt rauf!! In meinem Inneren gibt es jetzt nur noch eine Richtung. Und die zeigt senkrecht nach oben.
Irgendwann erreiche ich einen Absatz. Stand. Ich sichere Jens nach. Langsam kommen die anderen Aspekte meiner Persönlichkeit wieder zurück. War ich das, der da gerade geklettert ist, als wenn es um das Leben ginge?
Es ist faszinierend, wie ein Mensch in Extremsituationen reagiert. Alles ist reduziert auf das absolut Notwendige, auf das in diesem Moment Wesentliche. Komme ich hier in Berührung mit meinem Wesenskern? Ich weiß es nicht. Eines wird mir allerdings in solchen Augenblicken vor Augen geführt. Vieles, was im Alltag manchmal schwer und belastend erscheint, ist gemessen an der nackten Wirklichkeit nichts. Was im Kern zählt, ist die reine Existenz, die gelebte Existenz, die durchlebte Wirklichkeit. Alles Weitere ist Beigabe, die sich oft lohnt zu entwickeln, zu pflegen und zu fördern. Aber es ist Beigabe. Das Gewürz am Essen. Sehr schmackhaft, ja, aber vom Gewürz leben kann ich nicht, nur vom Essen selbst.
Jens steht neben mir. Keuchend. Alles geklettert mit dem schweren Rucksack. „Mann ist das schwer, und das in einer so großen Wand. Ich kann es kaum glauben!“ Wir fallen uns glücklich in die Arme. Emotion pur. Eine Minute, zwei Minuten – ich weiß es nicht. Im Hochgebirge hat man keine Zeit für so etwas. Wir müssen weiter.
Nach 50 Metern erreichen wir einen großen Absatz, eine Terrasse, mitten in der Wand. Über uns erhebt sich die Gipfelwand gelbrot in der Abendsonne. Irgendwie schön, irgendwie bedrohlich. Das schaffen wir unmöglich vor Einbruch der Dunkelheit. Wasser haben wir auch keins mehr. Aber wir haben einen Plan.
Doch erst einmal heißt es abseilen. Die ganze lange Wand hinunter. Teilweise atemberaubend, frei durch die Luft. Spät nach Mitternacht erreichen wir unseren Bulli. Kühlschrank, Bier, schlafen.
Am folgenden Tag erholen wir uns. Italien, gutes Essen, Eis mit Sahne, was will man mehr?
Doch nun zum Plan: wir steigen von der Rückseite, dem eigentlichen Abstieg, auf unseren Berg. Mit uns das ganze Gewicht, das man nun mal braucht für so eine Erstbegehung – schön ist anders. Vom Gipfelgrad aus wollen wir zur Terrasse abseilen und von dort die letzten 100 Meter der Gipfelwand klettern. Irgendwie wird uns nichts geschenkt. Das Wetter ist kalt, neblig, stürmisch. Bei schlechter Sicht irren wir am Gipfelgrad hin und her. Es ist unfassbar brüchig. Das sind keine Kletterfelsen, das ist ein senkrechter Kohlenhaufen. Irgendwie scheint sich der Berg hier im Gipfelbereich vollkommen aufzulösen. Wenn der Nebel aufreißt, suchen wir weiter. Schauen über den Abgrund in die Tiefe. Hier abzuseilen würde einem Himmelfahrtskommando gleichkommen. Spätestens beim Abziehen der Seile würden sich zwangsläufig jede Menge Steine aus dem Bruch lösen. Davon erschlagen zu werden, wäre wahrscheinlicher als nicht davon getroffen zu werden.
„So ein Scheiß“ schreie ich in den Sturm. Zum zweiten Mal bin ich maßlos enttäuscht. Jens sieht das gelassener. „Wir haben 650 Meter hervorragenden Fels als Klettertour erschlossen. Eine Abseilpiste ist auch eingerichtet. Ist halt eine moderne Tour. So etwas gibt es doch öfters. Soll man nach 20 Jahren glücklicher Ehe noch 5 Jahre Krebs hinten anhängen?“ Ich stimme Jens zu. Ja sicher. Natürlich. Eigentlich sehe ich das genauso…
Einen Scheißdreck tue ich. Mich wurmt das, mich nervt es. Nein, im Inneren frisst es an mir! Ich bin Bergsteiger, immer schon gewesen. Ja, auch Sportkletterer, innen drinnen aber bin ich Bergsteiger. Eine Bergtour endet für mich am Gipfel. Punkt.
Wir fahren zurück nach Dortmund. Jens ist glücklich, ich tue so. In meinem Kletterhallenbüro mache ich so manche Überstunden. Nein, keine neuen Kletterwände werden entworfen, auch nicht die Trainerausbildung optimiert oder die neue Außensauna geplant. Es sind meine ganz persönlichen Überstunden.
Ich habe hunderte von Fotos von der Tofana Südwand. Teilweise historische hochauflösende schwarz/weiß-Aufnahmen. Am Rechner ziehe ich die Bilder groß, studiere die Details der Gipfelwand. Wenn man lange genug im Gebirge war, erkennt man selbst auf Fotos, ob der Fels gut und kletterbar ist oder nicht. Ich kann das gar nicht genau erklären, woran man das fest macht. Es ist, glaube ich, einfach die Erfahrung. Von dem von uns am höchsten erreichten Punkt, der Terrasse, führt ziemlich leichtes Gelände nach rechts zu einer Kante. Diese Kante leitet senkrecht bis zum Gipfelgrad. Obwohl ich es nicht weiß, bin ich mir jedoch sicher, dass der Fels hier fest ist. Von da an bin ich wie besessen darauf meine Tour zu Ende zu klettern. Aber mit wem? Ich mach das allein. Innerlich bin ich aufgekratzt, hin- und hergerissen, zwischen dem Gefühl unendlicher Vorfreude und der Frage, ob ich noch alle Tassen im Schrank hab´.
Wir haben 4 Tage kinderfrei. Oma und Opa. Wenn es so etwas wie Großeltern nicht gäbe, sie müssten erfunden werden. Tanja war bedingt durch die Kinder schon lange nicht mehr im Gebirge. Wir können mal wieder zusammen ein paar Tage klettern gehen! „Nimm Deine Bohrmaschine mit. Dann kannst Du auch wieder ruhig schlafen.“ sagte Tanja.
„Nein, nein, quatsch, wir machen zusammen ein paar schöne Bergtouren.“
„Doch, doch…“
„Nein, nein…“
Wir steigen auf der Rückseite der Tofana auf. Auf meinem Rucksack, der sowieso schon zärtliche 25 kg auf die Waage bringt, habe ich ein 100 Meter langes Statik Seil gebunden. Zum Abseilen, aber vor allem als Lebensversicherung, falls irgendetwas nicht klappt. An diesem Seil könnte man zur Not mit Steigklemmen aus der Wand zum Gipfelgrad entfliehen. Die Schlepperei ist ganz schön anstrengend und Tanja ziemlich fertig. Jahrelang nicht im Gebirge gewesen und dann von Null auf Hundert ist eine nicht ganz so gute Idee.
Ich richte die Abseilstelle ein.
100 Meter rotes Seil rauschen in die Tiefe.
Tanja bleibt mutterseelenallein am Grad zurück und ich verschwinde einsam in der Tiefe. „Scary“ würde man in Neudeutsch sagen. Mich schaudert es, mich gruselt es.
Die Wand hängt leicht über, so dass ich gezwungen bin, spätestens alle 10 Meter einen Haken anzubringen, um nicht völlig den Wandkontakt zu verlieren. Am Ende dieser Kante ist ein riesiges Dach. Ich weiß es von den Fotos. Über dieses Dach darf ich auf keinen Fall abseilen, dann komme ich nie wieder zurück an die Wand. Die vielen Bilder, die ich mir angeschaut hatte, haben sich in mein Gedächtnis eingebrannt. Ich glaube nun zu wissen, wo das Dach unter mir ist, ohne es sehen zu können.
Mit dem Bein streife ich einen losen Stein. Dieser fällt 800 Meter frei durch die Luft, um dann irgendwann am Wandfuß einzuschlagen. Ausblenden, fokussieren, der Meter Fels vor Dir, die 10 Meter Fels neben Dir und unter Dir, das ist jetzt wichtig. Wer in seinem Leben schon einmal meditiert hat, weiß, wovon ich spreche. Wie schwer ist es sich auf seinen Atem zu konzentrieren, bei dieser Konzentration zu bleiben und diesen ganzen Gedankenmüll, der einem so durch den Kopf geht, nicht zuzulassen.
Genauso ist es hier auch, konzentrieren auf das unmittelbar notwendige des Augenblicks.
Ich muss nach links, ich bin mir ganz sicher. Unter mir muss irgendwo das riesige Dach sein.
Es ist vorbei mit abseilen. Hier muss ich klettern.
Aber erst einmal klettere ich nach oben. Morgen ist auch noch ein Tag.
Ich habe die Schwierigkeit der Gipfelwand unterschätzt und zu wenig Bohrhaken eingepackt. An meinem Fixseil gesichert, klettere ich die kompakte Wand empor. Alle paar Meter bohre ich einen Sicherungshaken, aus der Kletterposition. Wenn schon, denn schon! Ich klettere nur diese 70 Meter. Nur?
Ich bin allein, 800 Meter über dem Wandfuß. Mit dem Leben verbindet mich eine 10 mm Nabelschnur – das Kletterseil. Wenn man so allein über dem Abgrund hängt, können 10 mm verdammt dünn sein. Natürlich weiß ich, dass es hält. Aber messerscharfe Felskanten, das Seil könnte auch…. Es ist schon ein enorm mentaler Unterschied ob man allein oder zu zweit ist, worüber ich mir alles Gedanken mache!
Nach einigen Stunden bin ich oben.
Die Sicherungshaken fixiert, die Standplätze eingerichtet, eine Edelstahlkassette mit Wandbuch angebracht.
Tanja und ich sitzen im Geröll und essen Nüsse. Bergdohlen nähern sich bis auf einen Meter, aber unsere Nüsse mögen sie nicht.
Das gesamte Material lasse ich zurück. Erst müssen wir zum Gipfel hinauf und dann den sogenannten leichten Normalweg hinunter.
Wir überholen eine Gruppe „normaler“ Bergsteiger, hochalpiner Wanderer. Ich beobachte, was für Schwierigkeiten die leichten Felspassagen diesen Bergsteigern beim Abstieg bereiten. Leicht ist am Berg eben relativ, wie so vieles im Leben.
Wir bleiben auf der Hütte. Wir essen Braciola di Maiale. Hinter diesem wohlklingenden Wort verbirgt sich nichts anderes als Schweinekotelette.
Wir bleiben über Nacht.
Am nächsten Morgen hat Tanja einen überwältigenden Ganzkörpermuskelkater. Mal so eben aus der Kinderbetreuung zurück ins Hochgebirge war dann wohl doch nicht so der schlaueste Einfall; das finden zumindest die Muskeln. Wir besprechen uns kurz. Tanja steigt alleine über den Normalweg zum Gipfel auf, während ich über den Ostgrad zu meiner Tour aufsteige.
Nachmittags ist Gewitter angesagt. Ich stehe ganz schön unter Zeitdruck. So ein Gipfelgrad ist der natürliche Blitzableiter an einem Berg.
Wenn es irgendwo einschlägt, dann dort.
Während ich so hinaufhetze, muss ich über mich selbst lachen, denn mir ging gerade durch den Kopf, dass ich doch immer meine Stromrechnungen bezahlt habe… Was einem manchmal für ein Blödsinn durch den Kopf geht.
Mit einem pfeifenden Geräusch fliegt das 100 Meter Seil in den Abgrund. Abseilgerät eingehängt und los geht es, schwer bepackt ins Nirgendswo. Bald habe ich den Punkt erreicht, an dem ich gestern der Überzeugung war: nur links geht es weiter. Da sich an dieser Einschätzung nichts geändert hat, klettere ich los.
Ich sichere mich an einem so genannten Mega Jul. Ein filigranes Stück Edelstahl. Man kann das Seil locker nachschieben und ist trotzdem gesichert. Da ich in diesem Quergang ja von meinem letzten Haken wegklettern muss.
Bei Belastung, oder konkreter gesagt beim Sturz, schließt es dann, meistens. Deshalb mache ich nach ein paar Metern vorsichtshalber einen Knoten rein, damit aus meistens ein ganz bestimmt wird, falls es denn nötig sein wird.
Im Alpinen prüfe ich jeden Griff, immer. Hier geht es nicht. Der Griff muss einfach halten.
Ich setzte die Bohrmaschine an. Knack. Im hohen Bogen fliege ich aus der überhängenden Wand.
Wahrscheinlich ist es Adrenalin, was in Sekundenbruchteilen durch den Körper fließt. Es fühlt sich an wie ein Stromschlag.
Es ist nichts passiert. Das Sicherungsgerät hat gehalten, auch ohne Knoten.
Ich hänge im Seil.
Starre auf die paar Millimeter Edelstahl, welche Leben von Tod trennen.
Das Positivste an solchen Erfahrungen ist, dass exakte Wahrnehmen der Wirklichkeit.
Autofahren ist genauso gefährlich. Wenn eine filigrane Bremsleitung versagt, auch nur ein paar Millimeter Stahl, ist es in den meisten Fällen auch vorbei. Im Auto aber fühle ich mich sicher. Sitze bequem, unter mir die Sitzheizung, um mich herum Musik, die ich mag oder auch nicht, ganz egal.
Hier am Berg habe ich die Gefährdung klar vor Augen. Ich bin überzeugt davon, dass das Bergsteigen positiv persönlichkeitsbildend ist.
Es gibt eine allgemeine gesellschaftliche Tendenz, die ungefähr so abläuft: wenn mir irgendwie ein Missgeschick oder Unglück passiert, sind immer andere Schuld.
Wer in einer Radarkontrolle geblitzt wird, sagt nicht etwa: ich bin zu schnell Auto gefahren. Nein, nein. Die haben mich geblitzt. Das ist ein ganz wesentlicher Unterschied. Der geblitzt worden ist, also der Passive, ist innerlich noch ein Kind und weigert sich, die Verantwortung zu tragen für das, was er tut. Sage ich, ich fahre zu schnell Auto dann bleibt die Verantwortung bei mir. Dann bin ich erwachsen, begebe mich nicht in die Opferrolle, sondern werde im allerbesten Fall sagen: okay. Vier Wochen zu Fuß und danach passe ich auf.
Die Berge sind schonungslos geradlinig. Ein Fehler ist immer mein Fehler. Ein Erfolg ist immer mein Erfolg.
Das macht stark und demütig zugleich.
Nach meinem Fehler versuche ich es nochmal. Ich klettere nicht ganz so weit, kann mich besser am Fels positionieren und bohre einen Haken. Seil rein, weiter geht es.
Der Quergang geht erstaunlich gut. Noch ein Haken wird gebohrt. Jetzt kann ich schräg unter mir das große Dach sehen. Es passt, es ist genau richtig! Es fehlen nur noch 20 Meter bis auf die Terrasse, also quasi der Bereich, den ich mit Jens am höchsten erreicht habe.
Vom letzten Haken aus seile ich mich senkrecht ab. Aber ich sehe schon: das Seil hängt frei in der Luft. Es sind mehrere Dächer dazwischen.
Ich schätze ab, dass das Seil reichen könnte, nehme mir ein Herz und seile in einem Schwung bis auf den Absatz hinunter. Jetzt stehe ich unter der Gipfelwand. Atemberaubend.
Jetzt muss ich nur noch diese 20 Meter hinauf, trinke einen Schluck und sammle mich.
Die Haken sind schwierig anzubringen, es ist fürchterlich anstrengend. Es sind nur 20 Meter.
Mein Gott, wie kraftraubend können 20 Meter sein.
Von der Bohrerei bekomme ich Krämpfe in den Armen. Mist. Ich habe meine Magnesiumtabletten vergessen.
Unter dem letzten Dach, das es noch zu überwinden gilt, wird mir klar, dass wenn mir beim Bohren die Kräfte ausgehen, ich erneut ins Bodenlose stürzen würde. Gefühlt ins Bodenlose, eigentlich bin ich gut gesichert.
Einen Haken bekomme ich noch gebohrt und Tschüss. Ich pendele im Seil hin und her und mein Seil schabt mit wenig schönen Geräuschen an der scharfen Dachkante. „Was machst Du hier eigentlich? Du hast Familie. Zwei kleine Kinder. Und Du schaukelst irgendwo im Nirvana, von einem Stück Edelstahl gehalten.“
Der letzte Haken dringt in den Fels.
Ich klettere hinauf zum Gipfelgrad.
Emotional bin ich total fertig. Die ganze Anspannung fällt ab. Bäche von Tränen fließen aus meinen Augen.
Es gibt ein wunderschönes altes Kirchenlied. Meine Eltern haben es immer mit uns Kindern gesungen, wenn wir von einer langen Reise zurückgekehrt sind. „Nun danket alle Gott mit Herzen, Mund und Händen…“
Noch Stunden später nach dem langen Abstieg hab ich die Melodie im Ohr.
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